Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wird in Deutschland an einem Flughafen von Personenschützern begleitet.
Welcome, Mr. President
Personenschützer Andreas S. ist im Auftrag des Landes unterwegs. Sein heikelster Auftrag: der Schutz von Wolodymyr Selenskyj, einer der gefährdetsten Personen der Welt.
Streife-Redaktion

Es sind schon einige Monate vergangen seitdem, doch Andreas S. kann seinen Text noch abspulen, als wäre es gestern gewesen: „Welcome to Germany, Mr. President …!“ In fließendem Englisch hatte er Wolodymyr Selenskyj erklärt, dass er ihn nun über die NATO-Airbase zu dem Hubschrauber geleiten werde, der ihn anlässlich der Karlspreis-Verleihung nach Aachen fliegen sollte. „Das war mein absolutes Highlight: die am meiste gefährdete Person der Welt schützen zu dürfen!“, sagt er.

Andreas S. ist Personenschützer bei der Polizei NRW – und ein trainierter Profi: nervenstark, sicher an der Schusswaffe und im Notfall bereit, das eigene Leben aufs Spiel zu setzen. Doch romantisierende Assoziationen à la „Bodyguard“ und Kevin Costner sind da fehl am Platz. Im Normalfall geht es darum, Personen des politischen Lebens zu schützen, Ministerpräsidenten, Ministerinnen, aber auch Menschen aus der Mitte der Gesellschaft oder solche, die als Zeugen in Gerichtsverfahren aussagen. Da geht es häufig um Terrorismus, die organisierte Kriminalität und das Clan- oder Rockermilieu.

Ein x-beliebiger Montag im herbstlich verregneten Selm-Bork. Hier, im Landesamt für Ausbildung, Fortbildung und Personalangelegenheiten der Polizei NRW (LAFP), treffen sich rund 40 Personenschützer aus ganz Deutschland zu einem außergewöhnlichen Fortbildungsseminar. Es geht um Drohnenabwehr mit Hightech-Gerätschaften und um taktische Eingriffstechniken, darum, potenzielle Attentäter schon im Vorfeld einer Tat zu erkennen und sie rechtzeitig zu identifizieren. Und Sascha B., der Experte vom Landesamt für Zentrale Polizeiliche Dienste (LZPD NRW), erinnert bei der Vorstellung neuester Technik tatsächlich etwas an „Q“, den Leiter der Entwicklungsabteilung in James-Bond-Filmen. 

Viele interessante technische Möglichkeiten werden den Personenschützern vorgestellt, damit sie für Einsätze, wie beispielsweise den G20-Gipfel, bestens gerüstet sind und die Sicherheit hochkarätiger Teilnehmerinnen und Teilnehmer gewährleisten können.

Die Teilnehmer des Seminars sind fasziniert von den technischen Möglichkeiten der Drohnenabwehr. Manch eines der von ihm vorgestellten Geräte, erklärt Sascha B., sei bereits beschafft, andere noch auf der „Wunschliste“.

Der 39-jährige Dominik L. hat die klassische Polizeilaufbahn absolviert, bevor er Personenschützer wurde. Zunächst duales Studium für den gehobenen Dienst an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung, danach fünf Jahre Wachdienst im Ennepe-Ruhr-Kreis. Vom Job des Personenschützers erfuhr er per Zufall, als ihn eine Kollegin auf eine landesweite Ausschreibung aufmerksam machte. Dominik L. bewarb sich spontan, erfüllte die strengen Kriterien und nach Einführungsfortbildung begann er als Personenschützer im Polizeipräsidium Dortmund. Heute ist er der zuständige Lehrgangsleiter der anspruchsvollen Qualifizierung der Personenschutzkräfte der Polizei NRW.

Statt Alltagsdelikte hieß es nun vor allem Zeugenschutz-Termine rund um organisierte Kriminalität. Rocker, Clanmilieu, Islamisten-Szene. „Wie im Film ist man dafür verantwortlich, dass diejenigen, die als Opfer oder Zeuge vor Gericht aussagen, nicht in Gefahr geraten. Da geht es um Aussteiger aus der Szene oder um Clanmitglieder, die auspacken und andere belasten“, erklärt Dominik L.

Sein Kollege Robin F. (34) kümmert sich beim Polizeipräsidium Düsseldorf um eine feste Schutzperson. „Ich begleite die Schutzperson insbesondere auch bei beruflichen Terminen und erlebe so eine interessante Welt mit vielen politischen und gesellschaftlichen Terminen“, sagt Robin F. Zuvor hatte er für eine spezialisierte Personenschutzeinheit des Bundeskriminalsamts in Berlin gearbeitet. Irak, Mali, Tschad. Eine Woche hier, dann wieder dort. „Ein Jahr zuvor hatte ich noch Verkehrsunfälle in Essen aufgenommen, plötzlich saß ich mit der damaligen Verteidigungsministerin von der Leyen im Flieger. Am spannendsten sind allerdings die Reisen der Mitglieder der Bundestagsausschüsse.“

Personenschutz, das ist Arbeit im Team. Sich absolut auf die Kolleginnen und Kollegen verlassen zu können. Sich wortlos verstehen. Hohe Konzentration und Präzision. Denn jeder Fehler könnte im Ernstfall tödlich sein. Aus dem 8-Stunden-Tag wird auch schon mal ein Einsatz rund um die Uhr. „Und es gibt Tage, an denen ich abends nicht weiß, wo ich am nächsten Morgen sein werde“, sagt Robin F. Ein Beruf, der viel fordert. „Man muss die Vorteile sehen. Der Beruf ist interessant, man erlebt viel und arbeitet sehr selbstständig. Es gibt keinen klassischen Nachtdienst und dafür viel Fortbildung, viel Sport und viel Training“, erklärt F.

Im Raum C 6 des Selm-Borker LAFP hat nun der Bundespolizist „Calzone“ übernommen. Calzone, mit diesem Namen möchte er angesprochen werden, war 13 Jahre in einem Kommando des PSA (Polizeiliche Schutzaufgaben Ausland) der Bundespolizei tätig, aktuell gehört er der Ersten Internationalen Einsatzeinheit an. Ein Trainer der Spezialeinheiten mit viel internationaler Erfahrung. Er hat Videos mitgebracht von Selbstmord-Attentaten im afghanischen Kabul und berichtet aus den Prozessakten über Auffälligkeiten kurz vor dem Attentat auf den damaligen SPD-Spitzenkandidaten Oskar Lafontaine im Jahr 1990. Sein Thema an diesem Nachmittag: „Verhalten von Attentätern in der Vortatphase“.

Und Calzone wird nicht nur berichten, er inszeniert schließlich mit verteilten Rollen einen Anschlag auf sich selbst. Einen fingierten Anschlag. Aus den Seminarteilnehmern werden nun ahnungslose Zuhörer, renitente Störer, Beobachter, Personenschützer, die ihn vor dem ominösen Attentäter mit der Säure-Spritze retten sollen. Nur Calzone selbst weiß, wer wer ist, wer welchen Job übernommen hat.  Jeder beobachtet jeden. Wer mag der Täter sein? Wer verhält sich anders, irgendwie auffällig? Am Ende gibt es zwei, die ihren Job gut machen, rechtzeitig zugreifen und den „Täter“ überwältigen.

Calzone beginnt die Aufarbeitung. Was hat wer gesehen? Wer hielt wen oder was für verdächtig? Gab es Auffälliges? Der „Täter“ selbst berichtet, wie nervös er vor der Tat war, wie er seinen schneller werdenden Herzschlag spürte und sein Handy vor sich auf den Tisch legte, um die Uhrzeit, den vorgesehenen Tatmoment, unauffällig im Blick behalten zu können. Calzone resümiert: „Mir geht es darum, euch zu sensibilisieren. Es gibt Indizien für eine bevorstehende Tat. Körperhaltung. Mimik. Bewegung. Und es braucht immer mehrere Einsatzkräfte, die maximal fixiert sind auf ihr Ziel. Wir müssen stärker auf unsere Instinkte hören, unser Bauchgefühl ernst nehmen. If you see something, say something! Sagen, was ist!“

Personenschutz, das ist kein Metier, über das die Polizei öffentlich viele Worte verliert. Es geht um Sicherheit, aber auch um Diskretion. Wer jahrelang für den Schutz eines Bundespräsidenten oder einer Ministerpräsidentin verantwortlich ist, der weiß, wie die zu schützende Person lebt, wie ihr Alltag aussieht. Der benötigt eine hohe soziale Kompetenz und ist verpflichtet, zu schweigen. So wie es auch keine offiziellen Angaben zur Zahl der Personenschützer in Deutschland insgesamt gibt.

Im Notfall wird Personenschützerinnen und Personenschützern gleichermaßen eine überdurchschnittliche Fitness abverlangt. Sie müssen unter anderem bewegungsunfähige Menschen evakuieren können und dabei trotzdem aufnahmefähig bleiben. „Das ist wirklich anspruchsvoll“, sagt Robin F. Die Leistungsfähigkeit muss daher alters- und geschlechtsunabhängig jedes Jahr aufs Neue nachgewiesen werden. „Gesundheit und Fitness sind dafür echte Grundvoraussetzungen. Das wird von uns allen erwartet.“

Diskretion, das weiß auch er, ist alternativlos. Auf Partys gibt er sich schon mal als Fitness-Trainer aus oder als Rettungssanitäter. Diese Legende ist ihm lieber, als mit Fragen zu seinem Job gelöchert zu werden. Dabei hätten Robin F. und seine Kollegen eine Menge zu erzählen. Zurzeit erfolgt die Weiterentwicklung der taktischen Standards für Einsatz und Fortbildung der Personenschutzkommandos NRW. „In 2022 haben wir den ersten Platz bei dem bundesweiten Vergleichswettkampf geholt. Jetzt heißt es: Wer aufhört, besser zu werden, hat aufgehört, gut zu sein“, sagt Dominik L. Er freue sich sehr, die zukünftigen Generationen in diesem so spannenden Einsatzfeld zentral im LAFP fortbilden zu dürfen. Denn aus guten Polizistinnen und Polizisten gute Personenschützer zu machen, ist sein Auftrag.

In dringenden Fällen: Polizeinotruf 110